Richard Klein - Musikphilosophie zur Einführung

Junius-Verlag €15,90

Ganze vier Worte benötigt der kürzlich verstorbene Musikwissenschaftler Richard Klein für einen vorgetäuschten Etikettenschwindel und einen Understatement-Weltrekord. Musikphilosophie zur Einführung? Das Buch beginnt mit dem Satz: „Musikphilosophie gibt es nicht.“ Musikphilosophie zur Einführung? Das Buch beinhaltet den Satz: „Wenn schon Akzeleration und Sturm der Geschichte, dann sub specie aeternitatis.“

Hiermit stellt sich eine gewisse Furcht vor dem drohenden Folgeband Musikphilosophie für Fortgeschrittene ein. Der Verfasser könnte derselbe bleiben. Zwar spricht sich Klein im Vorwort gegen „Bildungsfuror mit Ganzheitswahn“ aus, aber das Vorliegende und eine kurze Auflistung des Ausgelassenen beweisen klar, er verfügt über ihn. Und das ist souverän, dass sich Arroganzverdacht trotz mehrerer Angriffspunkte verbietet.
Der als Erstes vorgestellte Brahms-Apologet und konservative Wagner-Kritiker Eduard Hanslick „eiert herum“, der in Künstlerkreisen verehrte Arthur Schopenhauer ist akademisch ein „toter Hund“ und der philosophische Wagner-Kommentator Friedrich Nietzsche ein „präzises Großmaul“. Doch geht es ans Eingemachte, holt Klein mit brillanter Argumentation das Beste aus seinen Protagonisten heraus, im Falle Schopenhauers sogar gegen deren (Achtung: Anspielung) Willen.
 Bei Hanslick, dem Vorbild der Beckmesser-Figur, wird der veraltete Positivismus als wohltuend antispekulative Freiheitsbewegung dargestellt, in seinem rückwärtsgewandten Werk finden sich im besten Sinne klassisch anmutende Gedanken, wie der von Autonomie als nicht Unabhängigkeit von Geschichte bedeutend, sondern erst die Freiheit zum eigenen Historischsein ermöglichend.

Im nächsten erstaunlichen Abschnitt geht es um die Ästhetik des Vordenkers der freien Marktwirtschaft Adam Smith, dessen Kategorien zwar den Kunstdiskurs des 18. Jahrhunderts verhaftet bleiben und auf dem von Platon und Aristoteles herrührenden Topos von Kunst als Nachahmung der Natur beruhen. Klein macht auf Zukunftsweisendes angesichts der Wertschätzung von Instrumentalmusik ohne praktische Kenntnis deren anstehender höchster Blüte aufmerksam und auf theoretisch-semantisches Besteck, das die Gralsfigur des Liberalismus mit dem im Zentrum des Bandes sich befindenden antidogmatischen Marxisten par excellence verknüpft, dazu gleich mehr.
 Es folgt ein Musterbeispiel kritischen, eigene Gedanken entwickelnden Kommentierens über die Metaphysik Schopenhauers, in deren ästhetischem Zentrum die Musik steht als unmittelbarer Ausdruck des Willens, dessen drohende zerstörerische Wirkungen aber, so der Philosoph, beruhigen. Der Verfasser zeigt Aporien, Unstimmigkeiten und Einseitigkeiten sowie mangelnde Fachkenntnisse des „toten Hundes“ - und Pudelliebhabers - mit glänzender Argumentation. Hier ist nun der Ort, auf die im methodischen Einleitungskapitel bekundetet Absicht einzugehen, dass sich „mit Adorno besser ohne Adorno denken lässt als ohne Adorno“, denn ich möchte behaupten und begründen, dass sich bis jetzt sehr ergiebig ohne Adorno mit Adorno denken ließ. Die bei Schopenhauer konstatierte Einsicht in Probleme des Systemdenkens, der dem neuen Positivismus zugestandene linkshegelianische Zeitkern, das erste Zitat aus Hanslicks Hauptwerk - klingt alles nach Frankfurter Schule. Hören wir zum Vergleich Adorno-Sound aus dem nächsten Kapitel: „Wagner erinnert an die Lava, die ihren eigenen Lauf durch Erstarrung hindert und plötzlich sich durch Blöcke gehemmt fühlt, die sie selbst bildet.“ Unnachahmlich, nicht aber unvorahmlich, denn das Zitat ist von Nietzsche.
Mit dessen Schriften über Wagner kommt etwas Neues in die, so sie es denn doch gibt, Musikphilosophie, nämlich ein Nachdenken über Musik nicht im luftleeren Raum, sondern am vorhandenen Werk. Nietzsche diagnostiziert „den Aufstand der Kunst gegen den Historismus“, weiß aber um die vermittelnden Hindernisse und die blinden, nicht nur braunen, Flecken der Wagnerianer und der Postmoderne, welche die dialektischen Hürden gar nicht mehr wahrnehmen. Nietzsches Hürden, trotz allerschönster Sprachkunst und philosophischer Stimmigkeit, sind wie beim rhetorisch ebenfalls alles andere als unbegabten Schopenhauer mangelnde Fähigkeiten der Strukturanalyse. Geht es mal um den Einzeltakt, ist vom Missverhältnis der Teile zum Ganzen und von der perspektivischen Zersplitterung (die im eigenen Werk doch als Vorstufe zum Übermenschen eingefordert wird) die Rede.
Und nun Adorno, in Echt. Klein sieht ihn auf den Schultern von Marx und Nietzsche - hoffentlich halten die Beiden still. Für den Fall des Falles gibt es die helfende (Achtung: Anspielung) unsichtbare Hand(-reichung) des Adam Smith. Dessen Schritt in die Moderne besteht darin, dass er die Musik mangels eines Bezuges zur Wirklichkeit außer ihr von der Nachahmung der Realität ausnimmt und ihre Ausdrucksmöglichkeiten als Wirkung des Kunstwerkes ohne Verweis auf externe Objekte bestimmt. Beim Verfasser wird daraus ein sich selbst bezeichnendes Zeichen, bedeutungsfrei und zugleich seine eigene Bedeutung. Übertragen auf Adornos Terminologie: Nichtidentisches, Rettung aus dem Verblendungszusammenhang, Begriffskonstellation statt -definition und Werkautonomie.

Ausgerechnet hier jedoch, wo ein ausgewiesener, theoretisch beschlagener Musikkenner und Philosoph die erwartete Ästhetik von unten, also vom inneren Aufbau des Kunstwerks mit einer Durchdachten übergreifenden Philosophie verknüpft, fällt der Autor an einer Stelle hinter seinen Anspruch zurück - und lässt beim Schreiber dieses Beitrags neben ausnahmslos dankbarer Begeisterung etwas Rezensionsfuror mit Präzisionswahn aufkommen. Adornos wunderbare musikalischen Monographien verdienen schon die knappe und schroffe Zusammenfassung bei Wagner und Mahler nicht, weder inhaltlich noch bezüglich des gar nicht erwähnten außermusikalischen Anlasses, und die Kritik an der Formulierung, Bergs Musik sei fortwährender Übergang „von Nichts zu Etwas und von Etwas zu Nichts“ - nun, erstens ist die gemeinte Stelle damit perfekt beschrieben und zweitens sind die ablehnenden Vergleiche mit Zen-Buddhismus und Hegels Logik abseitig beziehungsweise falsch, denn in letzterer, entgegen Kleins Bemerkung von Adorno häufig erwähnt und überragender Bedeutung, entsteht „Etwas“ aus der Kategorie der Qualität und wird zu „Anderem“.
Der Rest ist (Achtung: Anspielung) reines Gold - bei rauchendem Kopf. Drei Themenkreise werden zunehmend verdichtet: 1. Wie lässt sich über ein Gebilde reden, welches sich vom Begriff löst und ihn gleichzeitig fordert? Bleiben wir mit dem Verfasser bei Adorno. Wenn das Hören einer Mahler-Symphonie zum Lesen einer Passage aus dessen Essay verleitet und wieder zurück, möchte man zum fortwährenden Wechsel gerne sagen: Entgleite doch - du bist so schön. 2. Wie lässt sich zusammendenken, dass ein Musikstück in der Zeit steht und dabei selbst Zeit gestaltet? Hier reicht der Bogen von der Wiener Klassik und der Französischen Revolution (mit Dynamisierung des Zeitbegriffs) über Hegel zur seriellen Musik. Und eine Lösung wird dargeboten im letzten Abschnitt über - Bob Dylan. Die Never-Ending-Tour verknüpft Augenblick und Dauer, verkettet Anfang und Ende und verdichtet das Zeitempfinden - Richard Klein ist auf Augenhöhe mit den großen Dylan-Exegeten Greil Marcus und Heinrich Detering und kann sich aus „Bildungsfuror mit Ganzheitswahn“ nicht mehr herausreden. 3. Was ist ein Werk? Etwas Abgeschlossenes erst seit der Aufklärung. Klein konstatiert dagegen: „Musik hat unscharfe Ränder.“ (wie das Sehen und Bewusstsein) und präsentiert zwei konträre Positionen des 20. Jahrhunderts vom Verfechter des Primats des Werkes Carl Dahlhaus und dem Phänomenologen Romain Ingarden, der auch kompositionsfremde Elemente einbezieht. Um den nunmehr heftig rauchenden Kopf zu kühlen, dimmt er das Niveau auf eine zuspitzende Frage herunter: „Gibt es die Siebente von Beethoven oder nur unendlich viele Interpretationen von ihr?“ Vorschlag des Rezensenten: Man vergleiche Goethes Antwort, was denn die vielen Gestalten in seinem rätselhaften Märchen machen? Das Märchen.

 

Frank Rüb, Dezember 2022