Gustav Mahler

Jens Malte Fischer – Gustav Mahler

Deutscher Taschenbuch Verlag €26,90.-


Das ist Dialektik in Reinkultur. Der Komponist, dessen Werk wie kein zweites für Gebrochenheit und Zerrissenheit steht, erhält eine streng chronologisch angelegte Lebensbeschreibung wie aus einem Guss. Es herrscht ein von Moden und Stilrichtungen unabhängiger, dezenter und zum Mitdenken anregender Erzählton, der Mahlers Zeit und Umfeld so souverän schildert, dass die Lektüre eigentlich auch lohnt, falls man die Musik gar nicht sonderlich schätzt. Als Referenzpunkt hierfür ein Satz aus der Besprechung der Neunten: „Wer dieses Adagio hört und von ihm nicht im Tiefsten bewegt wird, der sollte weitere Bemühungen um Mahler stornieren.“

Wer seine Bemühungen nicht storniert, bekommt im Buch einige Detailanalysen sowie Zitate aus Mahler-Briefen und wissenschaftlichen Arbeiten nebst literarischer Bezüge und Querverweise. Nur zur musikalischen Struktur bieten beispielsweise die Textbeilagen der klassischen Decca- und Deutsche Grammophon-Aufnahmen mehr. Apropos Aufnahmen: Wie Fischer die Wichtigkeit der Stereotechnik zur Durchsetzung Mahlers betont ist plausibel, wie er auf einer halben Seite Karajans Ehrgeiz, Fähigkeiten und Grenzen (in dieser Reihenfolge) beschreibt, genial. Aus dem Zeitraum der Etablierung durch Schallplatten-Einspielungen zitiert der Autor noch manche antisemitisch grundierte Beurteilung, deren Vokabular Parallelen der Nachkriegszeit zu Mahlers Gegenwart aufweist, als wäre dazwischen nichts geschehen.

Der biographische Teil des Buches dient auch nicht unbedingt zur Unterstützung der in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung gelegentlich wieder milderen Beurteilung des Habsburger-Vielvölkerstaats oder Preußen-Deutschlands. Mahler bekam einiges Unappetitliches zu hören, setzte sich beruflich aber mit Erfolg durch. Sein Wirken als Dirigent ist eine Kulturgeschichte des Konzertlebens um 1900, als die Kanonischen Klassiker, während die Neue Wiener Schule schon mit den Hufen scharrte, nicht zuletzt durch Mahlers Einsatz erst richtig klassisch wurden.

Hochinteressant die Facetten des Privatmannes Mahler. Wir sehen einen Zeit seines Lebens intensiven, stockkonservativen Leser, einen entgegen des Klischees durchtrainierten Teilzeit-Triathleten, einen erlösungssüchtigen Künstler, der während des kompositorischen Ringens mit den metaphysisch höchsten Dingen um seinen geliebten Frühstückshonig kämpfte und einen kindisch werdenden betrogenen Ehemann, der seine Frau mit dem Kosenamen Almschilitzilitzili (sic!) zurückgewinnen suchte.

Und wir lesen einen Biographen, der der so betitelten Alma Gerechtigkeit widerfahren lässt und in der geistigen Durchdringung seines Gegenstandes wohl nur von Adorno übertroffen wird. Zur Überprüfung schlagen Sie nach auf Seite 508.

Mit dieser Passage sind die Hammerschläge der sechsten Symphonie im dialektischen Sinne aufgehoben.

Rezensent: Frank Rüb, Mainz