Frank Rübs HiFi-Anlage und Beethoven LPs

Gedanken zum 250sten Geburtstag von Ludwig von Beetoven

von unserem Buchrezensenten Frank Rüb

Heute einmal  keine Buchrezension von Frank Rüb  sondern ein eigenes Essay. 
Unser Autor Frank Rüb schreibt seine Gedanken zum Beethoven-Jubiläum.

Wenn ich das mal sozusagen als Rezensent sagen darf:  sehr lesenswert !

Ihr Rainer Pohl

 

 

Zum 250sten Geburtstage Ludwig van Beethovens am 16.12.2020

von Frank Rüb

Mein Mittelstufen-Musikunterricht bot kurze Lichtblicke, lange Weile und eine Initialzündung: Erfolgserlebnisse beim Partiturlesen und Analysieren, ödestes Herumstehen beim Choreographieren von Wolfsschluchtszene im Freischütz und Großem Tor von Kiew der Bilder einer Ausstellung und stille, faszinierte Begeisterung, als ohne Lehrkraft-Wortschwall der erste Satz von Beethovens Fünfter lief- unterbrochen vom Kommentar meines befreundeten Sitznachbarn „Ey, das ist ja geil!“. Die Freundschaft hielt, obwohl ich es vorgezogen hätte, wenn er die durchaus treffende Bemerkung bis zum Verklingen der Musik würde zurückgehalten haben- und die sündhaft teure, lieblos platzierte Revox-Anlage war wenigstens einmal ihr Geld wert.

Es handelte sich jedoch um eine Initialzündung mit Zeitverzögerung, denn meine erste Klassik-Plattenbox (Überraschung: Beethovens sämtliche Symphonien) erwarb ich erst im Abiturjahr. So blieb den Berliner Philharmonikern unter Karajan das unwürdige Abspieltrio Dual/ Telefunken/ Dynamic Pearl erspart und sie ertönten standesgemäß unter Linn/ Denon/ B+W mit den Herkunftsorten: gebrauchtes Firmungsgeschenk (nur deswegen bin ich bis dahin mitgegangen)/ Hifi-Lager Suppes/ Hifi-Profis (der Denon)/ Klangstudio Pohl.

Wer sagt da noch, der Mensch sei nicht entwicklungsfähig?

Die Aneignung der Musik war dann eine Entwicklung mit langem Atem, aber der Eindruck der Einmaligkeit hielt sich als roter Faden.Keine noch so umwerfende spätere Entdeckung, weder Wagner, Bruckner, Mahler, noch Schönberg, Berg, Van der Graaf Generator, stellten Beethoven in den Schatten. Nach unbeholfenen Anfängen in Form von neun Symphonien an drei aufeinanderfolgenden Tagen je einmal wöchentlich (was hätte ich denn machen sollen, es war ja meine erste und einzige Klassik-Plattenbox?) erweiterten sich Repertoire und Verständnis: Das Beiheft zur Karajan-Aufnahme führte zur Freude, dass man überhaupt über Musik schreiben kann, der Begleittext zu den mittleren Streichquartetten zu ersten Versuchen, den geschilderten Ablauf nachzuvollziehen- und zu Lust auf mehr, denn verhieß nicht schon der Titel, dass es auch noch frühe und späte, oder wenigstens vordere und hintere Streichquartette geben müsse?

Dies die Ausgangslage- wir schalten jetzt um zum gegenwärtigen Kenntnisstand des Verfassers und zur Ausgangslage des Komponisten. Kann man sich vorstellen, wie Haydn zu seinem Publikum spricht: „Dies ist ein Sonatensatz, aber Ihr müsst wachsam sein, ich habe einige Überraschungen eingebaut- und zwar, um zu prüfen, ob Ihr wachsam seid.“,

und Mozart: „Dies ist auch ein Sonatensatz, aber das ist angesichts meines übersprudelnden Einfallsreichtums irgendwie auch wieder egal.“, so sagt Beethoven: „Dies ist ein formvollendeter Sonatensatz. Demnächst mehr.“. Und imaginiert man sich einen idealen Beiwohner der Eroica-Uraufführung, der nicht weiß, was kommt, aber sofort erfasst, was da gerade geschieht, so kann, sollte es ihn gegeben haben, die Suche nach der erfülltesten Stunde des Musikhörens ohne Linn-Equipment eingestellt werden.

Dem Nachgeborenen dagegen ist das Vergnügen gegeben, Schritt für Schritt die Argumentation der Fachleute zu verfolgen, warum die geraden Symphonien zu Unrecht in der Popularität hinter ihren Schwestern zurückstünden, um dann mit dem Selbstvertrauen des lernbereiten Dilettanten zu verkünden: Meine Lieblings-Symphonien sind die Nummern 3, 5, 7 und 9. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie das Prädikat „klassisch“ in der qualitativen Bedeutung nicht nur verdienen, sondern fordern und dabei gleichzeitig reihenweise Affronts gegen das Prädikat „klassisch“ in der formalen Bedeutung bereithalten: Neue Themen in der Durchführung, drohender Stillstand in der Durchführung, fast variationsfreie Variationensätze, außermusikalische Einbrüche, inkommensurable formale Anlage, Lautmalerei und Gesang. Wer kann Schillers Freuden-Ode melodiefrei lesen?

Und Goethes perfekte Vermählung mit Beethoven durfte ich Mitte der neunziger Jahre im Staatstheater Wiesbaden hören und sehen: Iphigenie spricht den Tantaliden-Fluch zur Klavierbegleitung des zweiten Satzes der siebenten Symphonie. Seitdem weiß ich, was der Begriff reproduzierbare Gänsehaut bedeutet.

Die liefert Beethoven mit riesiger Spannbreite auch ohne Bezüge nach außen: er macht die statisch in sich ruhende Fuge zum dramatisch-dramaturgischen Gestaltungselement, beherrscht die Apotheose des Tanzes wie die Monomanie des Rhythmus` und gibt mit einer creatio ex nihilo den Advocatus-Diabelli. Was Beethoven aus der mediokren Vorgabe des Komponisten und Verlegers Anton Diabelli schuf, wird diesem ein erschrockenes „Aber ich wollte doch bloß…“ entlockt haben, dabei ist es nur EIN Gipfel, EIN Kosmos, EIN Instrument, EINE Form des unerschöpflichen Spätwerks. Allein die weiteren Variationen desselben bieten eine Fülle des staunenden, nachvollziehenden, vergleichenden Hörens und haben noch unwahrscheinliche Wunderwerke, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind, neben sich.

Kein diesbezüglicher Superlativ ist übertrieben- er vernachlässigt bloß die ersten acht Symphonien, sämtliche Konzerte, die anfangs erwähnten mittleren Streichquartette und vieles mehr. Welche Freude, den klassischen Beethoven mit dem formsprengenden, grenzenerweiternden auf die gleiche Qualitätsstufe setzen zu können und werkintern Vorboten und Hinweise auf Späteres zu entdecken. Das Auftauchen des Klopfmotivs der Fünften in der Appassionata und nicht nur dort, Elemente der Neunten in der Einleitung von Symphonie Nr.2 und dem letzten Satz von Klavierkonzert Nr.4, Ausdrucksintensität und Eigenwilligkeit schon der frühen Klaviersonaten in etlichen langsamen Sätzen, Beschwörung des Mondscheins und Sonatenaufbau ohne Sonatensatz (Nr.12 Opus 26).

Wer über Geschmack nicht streiten möchte und Komponisten nach Beethoven höher schätzt, nimmt ihn doch als Referenz, wie auch die Musiker selbst: Wagner, Bruckner, Schönberg studierten die Partituren der späten Streichquartette mit größter Aufmerksamkeit.

Die übrigen eingangs Genannten seien meine Gewährsleute, um über Geschmack zu streiten.

Es ist fraglos gut fürs Verständnis (und fürs Ego), dank kundiger Hilfe zu bemerken: Das ist die vierte Variation, also kommt jetzt, da hiermit das ende der Durchführung erreicht ist, die als Eintritt der Reprise geltende fünfte; oder: Das war das Signal für die Hälfte des Satzes, also kommt jetzt, da er nun rückläufig gespielt wird, die veränderte Wiederholung des variierten A-Teils. So komponierte Alban Berg. Es ist eine große Hörhilfe, die rhythmischen und thematischen Klammern von Mahlers Riesenwerken wahrzunehmen und ein Erlebnis, den erschütternden Zusammenbruch im ersten Satz seiner Neunten zu Beginn (des Satzes) und am Ende (der Symphonie) durchaus verwandelt vor- und nachbereitet zu bemerken. Diese Erkenntnisse stehen dann allerdings unvermittelt im Raum und auch Erschütterungen haben nicht ewig die gleiche Wucht. (Hiermit habe ich mir eine exzeptionelle Intensität beim nächsten Hören von Mahlers Neunter herbeigeschrieben und eine Bestätigung der geäußerten Einschränkungen beim übernächsten).

Bei Beethoven scheinen mir nach drei Jahrzehnten wachsender Vertrautheit die Stärke der Emotionen, die überwältigende Vielfalt, das Nebeneinanderstehen von in Worte zu Fassendem und Unbeschreiblichem, das Für-sich-Stehen und die Befruchtung jeweils und in der Summe unerschöpflich wie bei niemandem sonst. Statt endloser Aufzählungen seien der unfassbare dritte Satz der Hammerklavier-Sonate und die ursprüngliche Folge des Streichquartettes Opus 130 Cavatina/ Große Fuge genannt.

Dieses Schockprogramm erreichten mit andern Mitteln, Klassik-Puristen sei es ernsthaft gesagt, die noch nicht wieder eingeführten Van der Graaf Generator mit dem Wechsel von Refugees zu White Hammer.

Und in der kleinen Hoffnung, auch eine inhaltliche Aussage beizutragen, die im Schreiben über Beethoven nicht schon dutzendfach vorkam: Angesichts mindestens vierer Instrumentalkonzerte, mancher Sonate, etlicher Streichquartette, der Missa solemnis und dem jeweiligen symphonischen Zug: er wäre der größte Symphoniker aller Zeiten selbst dann, wenn er nicht eine einzige geschrieben hätte.