Progressive Rock

Die Ernste Seite der Popmusik

Bernward Halbscheffel

Progressive Rock. Die Ernste Musik der Popmusik

Halbscheffel Verlag

€49.90

 

Ein Lektor! Ein Königreich für einen Lektor. Was für ein Werk hätte das werden können. Der Autor, Mitherausgeber eines zweibändigen Rock-Lexikons, hat im Eigenverlag ein mit reichlichen Seltsamkeiten bestücktes Buch rund um progressive Rockmusik veröffentlicht. Nach einer gelungenen Einführung mit etlichen Definitionsangeboten von beteiligten Musikern und aus englischsprachigen Titeln zum Thema kommt es zu keinem Resultat. Es folgt ein geschichtlicher Abriss, der ebenso den Erfinder der literarischen Technik der Abschweifung zum Vorbild nimmt. Lawrence Sternes Roman Tristram Shandy setzt ein mit der Geburt des Titelhelden, die sich hunderte Seiten später noch immer nicht vollzogen hat und einer nach Öl verlangenden Wohnungstür, die am Ende noch immer quietscht. Hier wird auf Seite 41 der allgemein anerkannte Startschuss bestritten (am Hof des Karmesinroten Königs ist man not amused, aber dort wird eh selten gelacht) – und nach endlosen Listen, Seitenblicken nach Deutschland (West und Ost) und Rückblicken auf die reine Pop-Szene Anfang der Sechziger kommt dann endlich auf Seite 74 ein kleiner Kanon wirklich progressiver Platten aus Sicht des Autors, von denen mehr als die Hälfte mit keinem weiteren Wort bedacht wird, während zurückgewiesene Scheiben eine Kurzbeschreibung bekommen. Zwar bekennt sich Halbscheffel zu Subjektivität und Unvollständigkeit, doch es befremdet, wenn im Register achtmal von Van der Graaf Generator die Rede ist, man aber inhaltlich nur erfährt, dass Peter Hammill Grönemeyer-Texte ins Englische übertragen hat und Hugh Banton seine Tasteninstrumente selbst bauen und reparieren konnte. Beides sicher nicht alltäglich, ein Hinweis im sehr gelehrten Zitate-Kapitel über die „21st century schizoid Man“-Hommage bei „After the Flood“ oder die Genesis-Vorwegnahme im ersten „Lighthouse-Keeper“-Instrumentalteil wäre vielleicht doch wesentlicher.

Der Abschnitt über Konzeptalben und Rockopern behandelt Bekanntes und Spezielles, doch auch den aufgeklärtesten Zeitgenossen dürfte angesichts einer Leerstelle ein Stoßseufzer aus religiösem Bereich entfahren: Kind Gottes, du lässt hinweg Gabriels Lamm?

Zwei Faibles hat Halbscheffel, die sich durch ganze Buch ziehen, nicht fehl am Platz, aber überrepräsentiert. Ich verkneife mir eine Persiflage, sie sähe so aus, dass hier alle fünf Zeilen zu lesen wäre: Keith Emerson war ein Ausnahmemusiker und alles begann mit den Beatles in allen Bereichen.

Weitere Bereiche im besprochenen Band sind Studiotechnik, Orchester und klassische Kompositionsweisen, Plattencover, Retroprog, Tribute-bands, u.v.m. Zur Gegenwart (Stand 2013) treffen die Bemerkungen über Inspirationsprobleme bei Steven Wilson und Arroganzvorwürfe bei Dream Theater meinen Geschmack. Zum Grübeln über die Berechtigung von Cover-Bands hätte ich ein einfaches Argument: Wer The Musical Box gesehen hat, braucht sich nicht lebenslang zu grämen, dass er jünger als sechzig ist und die Show darf den Status eines klassischen Konzerts beanspruchen.

Bei kompletter Lektüre erfährt man noch viel Wissenswertes, der Bezug zum Kernthema erschließt sich gelegentlich nur auf Umwegen. Es geht um Schallplattenverpackungen in den fünfziger Jahren (Jailhouse-Prog?), das Kriterium bei der Festlegung der CD-Spieldauer zwischen Sony und Philipps (die langsamste Aufnahme der Neunten soll draufpassen, die Referenz ist Furtwängler-Prog over Beethoven!) – und um Atemraubendes: Ließen sich die Rolling Stones mit den Noten zu „I wanna be your Man“ ablichten, wurden die meisten seitenfüllenden Epen auswendig eingespielt – der häufige Vorwurf „Kopfmusik“ trifft es so betrachtet ausgezeichnet. Hierzu passt Phil Collins‘ Kommentar in seiner sonst eher unterkomplexen Autobiographie zum ständigen Publikumswunsch nach dem Hauptwerk: „Wir waren immer froh, wenn wir damit fertig waren – und gleichzeitig damit fertig wurden.“

Und kann es nun noch zu einer positiven Besprechung kommen? Am besten durch eine Abschweifung zu Ehren Lawrence Sternes.

Freunde des spanischen Fußballs wissen, dass man auch mit 80 Prozent Ballbesitz ein Spiel verlieren kann. Freunde der Musik können 80 Prozent Kritik hinnehmen, wenn der Rest stimmt. Der handelt vom umfangreichsten Teil des Buches, der einzelne Werke analysiert. Ganz ohne Überraschungen geht auch das nicht ab – nur Eine Gruppe ist mit mehreren Titeln vertreten (richtig geraten: The Beatles) und der Text zu „Atom Heart Mother“ ist stark, steht aber in einem anderen Kapitel (Ein Lektor! Ein Königreich…). Pure Freude ist es aber zu sehen, wie man dreißig Seiten zu „Close to the edge“ und zwanzig zu „Tarkus“ schreiben kann mit kompetenten Erläuterungen zu musikalischer Struktur inklusive Notenbeispielen, Zusammenspiel und Aussagen der Beteiligten sowie Querverweisen zu anderen Stücken. Nicht ganz so umfangreich, aber ebenso qualitätvoll die Analysen zu Thick as a brick, Knots, Bohemian Rhapsodie, Starless, Supper’s Ready. Die Klassifizierung der Bühnenshow zu Letzterem als „harmlos“ verglichen mit Madonnas (!) kontern wir mit dem Hinweis, dass die Mörder Dostojewskijs leichter zu erraten sind als die bei Edgar Wallace.

Da dieser Titel nur auf Bestellung zu beziehen ist (ca. eine Woche Dauer) liegt mein Exemplar vom Sommerfest bis Weihnachten 2018 im Klangstudio zur Ansicht aus.

Frank Rüb