50 Jahre King Crimson

Eine Hommage von Frank Rüb

Zwei Enttäuschungen bereitete mir meine Lieblingsgruppe.

Die erste ereignete sich kurz nach dem Kauf des Debütalbums, als ich aus der Ferne im Schaufenster eines Antiquariats einen dicken Wälzer mit den Buchstaben KiNG CRImSoN auf dem Umschlag zu erblicken glaubte. Beim freudigen Heraneilen stellte sich Ernüchterung ein: da stand das Werk von Hans KüNG ChRIst SeiN.

Einen Kirchenaustritt und drei Platten später wieder ein langes Gesicht: Gegen die bislang beachtete Chronologie verstoßend erwarb ich ahnungslos „Three of a perfect pair“. Verdrossen, aber unbeirrt zur Erscheinungsfolge zurückkehrend noch ein kurzer Schock, als ich „Larks`tongues in aspic“ erwartungsfroh in Händen hielt: Es waren erstmals keine Texte abgedruckt und, schlimmer noch, sie waren nicht von Pete Sinfield.

Platte aufgelegt- Schock in ungläubiges Staunen verwandelt.

Der Zugang zu allem ab den achtziger Jahren ist mir nie recht gelungen, immerhin hat „The sheltering sky“ beim Jubiläumskonzert das seltene Schauspiel geboten, Robert Fripp auf der Bühne die Arme bewegen zu sehen.

Das mussten die Westernhelden des Filmes öfter tun, dem der Titel der folgenden Würdigung entliehen ist- Die glorreichen Sieben.

1. In the court of the crimson King

Homers Epos Ilias bescherte dem Abendland die Einsicht, dass die Erfindung einer Kunst-Gattung schon deren unübertroffenen Höhepunkt bedeuten kann.

Es sollte eine Weile dauern, bis in Europa Vergleichbares geschah.

Nicht das Drama, das Hirtengedicht, die Bekenntnisschrift, weder Brief- noch Bildungs- oder Familien-Roman, noch Oper, Symphonie oder Rock`n Roll starteten auf dem Gipfel.

Dann kam der zehnte Oktober 1969. Und gleich dem Falle Trojas verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer- der Progressive Rock war geboren.

 Die Komplexität der Schöpfung macht zwar den Kommentar eines Journalisten plausibel, eigentlich sei das eine Platte der Marke „Kritikers Liebling, verkaufte Stückzahl 846“, aber die Vorboten wiesen auf den Erfolgsweg.

 In den Szene-Clubs, wo Bill Bruford seine zukünftige Band erstmals hörte und im Geiste schon mitspielte „standen die Leute mit aufgesperrten Mündern da (das Cover!), vergaßen zu applaudieren und die Kellnerinnen hörten auf, zu bedienen“, wie der Schlagzeuger im Interview sagte.

Im Hyde-Park gab es beim Brian-Jones-Gedenkkonzert Standing Ovations von 250.000 Besuchern.

 Zur Erklärung diene eine abenteuerlustige Hörerschaft, eine Songvielfalt von Politdrama, Hirtengedicht, Bekenntnisschrift, Utopie und höfischem Epos sowie eine nicht wieder erreichte Anhäufung höchster Kompositionskunst: Jede Note und jeder Vers , jede Melodie und jeder Rhythmus, jedes Solo und jedes Zusammenspiel, ob Gitarre-Bass-Feuerwerk oder Gitarre-Mellotron-Streicheleinheit, Improvisation und Konstruktion, Wohlklang und Kakophonie- alles ein Monument für die Ewigkeit, ein geschmeidiger Kraftakt des „So und nicht anders“. Ließe sich das wiederholen?

 

2. In the wake of Poseidon

Die offen gelassene Frage muss bejaht werden und es war nicht jedem recht.

Doch man vergegenwärtige sich die Ausgangslage: Der Haupt-Komponist und Multi-Instrumentalist stieg zu Beginn der Aufnahmen aus, schrieb noch an einem Song und an einemTeilstück mit, spielte aber gar nicht mehr; Sänger und Bassist Greg Lake war im Übergangsmodus, den Bass übernahm der vor der Produktion des ersten Albums geschasste Bruder des Schlagzeugers, ein Lied übernahm bereits Gordon Haskell, der Sänger der nächsten Platte.

Es bleibt wohl Lakes Geheimnis, wie er hier seine brillante Stimme in den Dienst der Musik stellen konnte, während er umstandslos den parallel eingespielten „Take a pebble“ und „Lucky man“ die typische ELP-Attitüde des Hört-Ihr-auch-alle-wie-gut-wir-sind verlieh.

 Da wird die deutliche Kopie des Vorgängers beim Aufbau von Seite Eins zum wohltuenden Kontinuum. Nimmt man das spätere Statement des nun unumschränkten Bandleaders „Nicht wir machen die Musik, die Musik macht uns“ ernst, nun, so war die Musik eben noch nicht fertig. Der Direktvergleich der drei sich ähnelnden Stücke fördert nebenbei alles andere als einen uninspirierten Abklatsch zutage, eher ein knappes Unentschieden.

 Und gibt es einen Hörer, der die Platte nach dem Titelstück mit dem verärgerten Ausruf „Mist, schon wieder Epitaph!“ umdrehte?

 Ehrlicher ist es, einen Qualitätsabfall der B-Seite zu konstatieren, trotzdem erfreut ein berührendes rahmendes Peace-Piece, ein Paradestück für Ohrenarzt-Praxen und der wohl früheste Aufschrei gegen Fastfood und Supermarkt-Unkultur.

 Die Naturkost-Branche schlief noch, die in „Mother`s little helper“ vertretene Gegenposition wurde als emanzipatorischer verstanden, so konnte kein Hit entstehen.

 Den lieferte Sinfield-Freund Tammo de Jongh, der in die Fußstapfen des tragisch verstorbenen Barry Godber trat- das Cover!

3. Lizard

Hat Robert Fripp 1966 das WM-Viertelfinale zwischen Deutschland und Uruguay gesehen?

Seine Kampfansage an genügsam-schwelgerische Fans wie Eigenplagiats-Kritiker gleichermaßen scheint jedenfalls den ersten Platzverweis der Südamerikaner zum Modell zu haben: Zunächst ein Schlag in die Magengrube, dann eine schallende Ohrfeige. Die Reaktion des abgewatschten Uwe Seeler sowie sein Einsatz beim nächsten Viertelfinale im Lizard-Erscheinungsjahr dagegen bieten die perfekte Anleitung für den aufnahmewilligen Rezipienten dieser dornigen LP: sich nicht provozieren lassen und zum gegebenen Augenblick auch mal den Hinterkopf benutzen.

Und siehe, knapp die Hälfte des Werkes ist durchaus melodisch. Eine virtuose Akustikgitarre setzt im Eröffnungsstück kongenial Willy Brandts Regierungsstil „Führen durch Andeuten“ in Rockmusik um, ein wunderschönes zartes Liebeslied beschließt die erste Seite, das erste, noch folgenlose Stelldichein eines Yes-Mitglieds veredelt zu Beginn das einzige seitenfüllende Epos der Bandgeschichte, danach übt Mel Collins mit diversen Bläser-Gehilfen, die zuvor eher auf Krawall gebürstet waren, schon mal das Verschmelzen von Spieler und Instrument und das Bewirken des Schmelzens von Hörer und Instrument.

Fripp bringt sich im dritten Teil von „Prince Rupert`s lament“ in Zeitlupe für die „Mutter aller E-Gitarren-Soli“ auf dem Nachfolgealbum in Stellung und man versuche einmal, den ruppigen Instrumentalteil davor als älteren dunklen Bruder der zweiten Hälfte des „Firth of fifth“-Parts sich vorzustellen. Einen schrillen und schrägen Beatles-Nachruf hatten im Trennungsjahr auch nicht viele im Programm (Jonah, Judas, Silas und Rufus in „Happy Family“ entsprechen John, Paul, George und Ringo).

Restlos überzeugt eine Gemeinsamkeit des dritten Crimson- mit dem dritten Roxy-Music Album: Kaufanreiz genug (und bei einem zu 95 Prozent männlichen Konzertpublikum wird man das ja wohl noch sagen dürfen) ist schon- das Cover!

Farewell, my stranded Lady of the dancing water.

4. Islands

Das Schöne am Umgang mit Kunst überhaupt und Musik im Besonderen ist, dass persönliche Vorlieben von der Beschäftigung mit Randständigem noch profitieren, ohne dieses abzuwerten. Anders ausgedrückt: Horizonterweiterung lässt die Spitze der Pyramide noch strahlender erscheinen. So dachte ich neulich beim zufällig aufeinanderfolgenden Hören des Sanftesten und Härtesten meines Rock-Repertoires, dass schon beide einzeln, erst recht das Kontrastprogramm ein musikalisches Leben lang erfüllende Freude bereiten kann (Und dazu entstand noch die Vision, wie in einer globalen Surround-Übertragung Annie Haslam mit den letzten acht Zeilen von „Ashes are burning“ den Weltfrieden herbeisingt, während Gauland, Trump, Salvini und Konsorten in Endlosschleife den „Immigrant Song“ vorgespielt bekommen).

Doch aufrichtig: Allein für das „Formentera Lady“-Intro gäbe ich das Gesamtwerk beider Gruppen dahin (Horizontverengung lässt das komplette Sichtfeld glänzen). Übrigens war die Homer-Messlatte nicht übertrieben, in der dritten Strophe taucht Odysseus leibhaftig auf. Filigrane Instrumentierungskunst durchzieht das ganze Album, mal theatralisch, oft introvertiert. Beide Register beherrscht der neue Sänger Boz Burrell, vor allem die stillen Teile scheinen ihm auf den Leib geschneidert.

Beim harten, theatralischen Höhepunkt hat er Sendepause- Sailor`s tale: Mellotron, Saxophon, Percussion, und das schon erwähnte Fripp-Solo – zum Abdriften. Apropos Abdriften: Der sanfte Höhepunkt, das große Finale (Was für ein Text, was für ein Ausklang- eine Minute länger und Mel Collins wäre selbst geschmolzen) wird bei meiner Beerdigung erklingen, wer durch diese Beschreibung auf den Geschmack kommt, ist herzlich eingeladen, der Termin wird noch bekanntgegeben.

Mein letzter Wunsch in Worten: Sinfields Abschiedsverse- Beneath the wind-turned wave- infinite peace- Islands join hands `neath heavens sea. Mein letzter Wunsch im Bild: Dass im Moment des Hinübergleitens mein entschwindendes Bewusstsein kosmische Horizonterweiterung vor dem inneren Auge hat- das Cover!

5. Larks` tongues in aspic

So, da sind wir wieder, diesmal mit vollständig ausgetauschter Mannschaft bis auf`s Zentralgestirn. Beim Stichwort Zentralgestirn darf das Leitmotiv gleich am Anfang ran:

Das Cover!

Aber wie gestaltet man den musikalischen Anfang, um den neuen Texter und den hervorragenden neuen Sänger angemessen einzuführen? Am besten mit einem knapp viertelstündigen Instrumental-Stück. Und das Ende? Mit zwei zusammen viertelstündigen Instrumental-Stücken. Pete Sinfield wird es als skurrile Art der Wertschätzung verstanden haben.

Sein Nachfolger Robert Palmer-James übernimmt in „Easy Money“ die Thematik von „Ladies of the road“, es folgt ein Vorgriff auf spätere Jahre und zum Abschluss die ultimative Dröhnung. Der Kultstatus der Scheibe erklärt sich aber durch die erste Seite, vielleicht die beste der Rockgeschichte überhaupt. Beim ersten Teil des Titelstücks schweigt nicht nur John Wetton, sondern aus Ehrfurcht auch der Verfasser dieses Beitrags. Das Wort übernimmt Wagners Tannhäuser: „Anbetung solchen Wundern zollt, da Ihr sie nicht begreifen sollt“. Das fast noch größere Wunder dann, wie mit anderen Mitteln das Niveau gehalten wird: Ein dreiminütiges Kleinod mit hochkompliziertem Rhythmus und grandioser Violinbegleitung und ein längeres fragil-majestätisches Meisterwerk, von dem jede Punk-Band denken würde: Das kann man doch in neunzig Sekunden runterrotzen.

Wer die Majestät schon im Namen trägt, hat im Lande Shakespeares nicht unbedingt die Punks, sicher aber die Hofnarren auf seiner Seite: Monty Python erhielten finanzielle Unterstützung von Jethro Tull und Led Zeppelin, lief eine Folge im Fernsehen, unterbrachen 

Pink Floyd die Aufnahmesessions zu „Dark side of the moon“, aber im Leben des Brian wurden King Crimson verewigt mit dem Verkäufer von Lerchenzungen.

 And now to something partly similar…

6. Starless and bible black

Nur ein Abgang, der aber konsequent gleich ins Kloster, kein neues Gesicht.

Dafür die Rekordzahl von sechs Stücken auf der ersten und der völlige Verzicht auf Gesang auf der zweiten Seite. Innovationskraft, Improvisationskunst und stilistische Bandbreite sprechen für sich, daher zunächst der Fokus auf das schwer durchschaubare, d.h. durchhörbare Starless-Instrumental. Laut Hegel ist Wissen organisiertes Nicht-Wissen, setzen wir hier entsprechend Ordnung als strukturiertes Chaos. Verblüffende Parallelen gibt es im Aufbau mit dem Präludium von Alban Bergs Drei Orchesterstücken opus 6- bitte schauen Sie jetzt auf die Nummer in der Kopfzeile! Und wie in den atonalen Werken der modernen klassischen Musik achte man auf wiederkehrende Intervalle, häufig auftauchende Motivfetzen und deren Variation und Kombination. Unbekümmert um die Intention des Komponisten ist es auch fruchtbar, selbst kreativ zu werden und eigenständig Tonfolgen zu Melodien zu verbinden oder einfach nur zu markierenden Pfeilern im Fluss zu machen.

Das ist nicht unanstrengend, Ersthörer können gleich noch die hier besonders interessante Schätzung abgeben, welche der beiden Seiten ihnen länger vorkommt. Auf der ersten ereignet sich die nochmalige Erfindung des Progmetal, um Urheberstreitigkeiten vorzubeugen vom gleichen Erfinder und eine Songfolge, die wohl die schönsten zehn Minuten des Bandoeuvres darstellt.

 Doch größte Kunst ist immer auch nahe am Abgrund, kurz vor Ende von „The night watch“ erinnern acht Töne fatal an Andrea Jürgens` „Oh my Japanese Boy“. Drastischer noch, die Erde bebt, deutet nicht schon der Name King Crimson auf eine schauerliche Verbindung mit Roy Black?

 Wäre da nicht die Aufschrift von Bandname und Plattentitel, was leuchtete ganz in weiß?- Das Cover!

7. Red

Anfang der Siebziger Jahre brachten genervte Gitarrenverkäufer im Vorführraum Schilder an mit dem Hinweis „No Stairway to heaven please“. Wie viele Hifi-Händler erwogen Gleiches seit dem Erscheinen von „Brothers in Arms“? Wenn Sie für Abwechslung sorgen wollen versuchen Sie es mal mit „Fallen Angel“, die Gitarrenbegleitung insgesamt und vor allem die Flageolett-Anschläge sind beste Entscheidungshilfen.

Zum Kernbestand des krönenden Abschlusses zählen jetzt nur noch drei Gruppenmitglieder, erstmals auf dem Cover…, jetzt hab ich den Faden verloren- erstmals auf dem Cover abgebildet, trotzdem geht`s los mit Vollgas, wie die Anzeige auf der Rückseite andeutet. Und das Gaspedal bleibt am Anschlag, auch qualitativ. Die Titelanordnung, stellenweise inklusive deren Spieldauer, ist der des Debütalbums nicht gänzlich unähnlich, die zu diesem genannten musikalischen Merkmale übertragbar, nur zu „Starless“ schlagen sie bitte die Detailanalyse zu „Larks`tongues in aspic part one“ nach, und genießen Sie zusätzlich, dass John Wetton zu Beginn nicht schweigt.

Dieses war der siebente und letzte Geniestreich innerhalb von fünf Jahren, man mag sich nicht ausmalen, was noch hätte kommen können. Ian Mc Donald war zurückgekehrt, Greg Lake wäre für drei Jahre frei gewesen und- warum eigentlich nicht drei Sänger, man man tourt ja gegenwärtig mit drei Schlagzeugern- Jon Anderson auch. Fripp machte erstmal Schluss.

 Epos und Progressive Rock sind glücklich vermählt, da darf der Vater der abendländischen Kultur noch mal herangezogen werden. Mögen alle Beteiligten, die unter dem Egomanen Fripp zu leiden hatten, d.h. mögen alle Beteiligten beim Rückblick auf das Geschaffene die gleichen Worte aussprechen wie die ihre gefallenen Söhne betrauernden trojanischen Greise beim Anblick der vorüber schreitenden, eben noch bitterlich angeklagten Helena: Das war es wert!

 Und bis zum hundertsten Geburtstag von King Crimson überlegen wir gemeinsam, ob Robert Fripp in diesem Gleichnis für Helena, ihren Entführer Paris oder Homer selbst steht.