Christoff Wolff - Johann Sebstian Bach

Rezension von Frank Rüb

Christoph Wolff- Johann Sebastian Bach

S. Fischer Verlag € 20,-

 

In seiner 1927-30 erschienenen Kulturgeschichte der Neuzeit konzediert Egon Friedell den absolutistischen Herrschern der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sie hätten das Volk nicht unterdrückt, um sarkastisch hinzuzufügen, nein, sie hätten es noch gar nicht bemerkt.

Pointiert, geistreich und nicht ganz von der Hand zu weisen, schließlich befand Metternich hundert Jahre später, der Mensch beginne eigentlich erst mit dem Fürsten, wies sich selbst also bescheiden die niedrigste Stufe zu. Doch was hilft das für eine Biographie Johann Sebastian Bachs?

Ein jüngst veröffentlichtes populäres Sachbuch über die „Bachzeit“ ist in vielem zu salopp und verwechselt, nachdem die Schreibhürde Leibniz noch genommen wird, was wichtig ist, um Philosophiekundigen nicht auf den Keks zu gehen, den gemeinten Isaac mit dem Aktfotografen Helmut Newton. Kein Kommentar, keine Rezension.

 

Schließlich wird der Begriff des modernen Individuums zumeist erst der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution zugerechnet.

Wie schildert man also das Vormoderne oder Noch-Nicht-Individuum Johann Sebastian Bach? Hier die Zutaten: Akribisches Quellenstudium, sorgfältiges Abwägen des Erhaltenen mit dem Verlorenen oder Nichtexistenten, Aufzeigen von Entwicklungslinien, Einbettung in die und Absetzung von der Familie, stupende Gelehrtheit und Gespür für Anekdoten. Dies alles aus der Feder des vielfach ausgezeichneten Musikwissenschaftlers Christoph Wolff.

Bei der trotz aller inhaltlichen und methodischen Meriten nicht zu leugnenden Detailversessenheit und Sprödigkeit der Darstellung ist es ratsam, die Lektüre durch die stets sich präsent gehaltene Frage „Wie viel Ich ist im Porträtierten?“, zu verlebendigen.

 

Man trifft auf eine angesehene, verzweigte, einflussreiche und talentierte Musikerfamilie der Bachs, deren Zusammenhalt den hochbegabten, vielseitig interessierten Johann Sebastian und bereits als jungen Erwachsenen als Star der Familie anerkennt. Der akademisch gebildete, handwerklich versierte, mit höfischen Umgangsformen vertraute Virtuose zieht Anfang Zwanzig der einengenden Bande wegen aus der vertrauten Umgebung und nimmt seine Karriere in die eigene Hand. Zur Ausbildung sind 400 Kilometer Fußmarsch kein Hindernis, zur Aufnahme einer neuen Stelle ist Geld ein Argument.

Der zweite Aufenthalt in Weimar ab 1708 führt zum Selbstverständnis als Komponist statt an erster Stelle Organist zu sein. Mit dem Antritt der Stelle des Thomaskantors in Leipzig nach bestandener theologischer Prüfung auf Latein darf die Ausbildungszeit als abgeschlossen betrachtet werden. Innerhalb einer Generation wird aus dem Wunsch der Stadtoberen nach „einem Bach“ für eine zu besetzende Musikerstelle die Zeitungsmeldung, dass der berühmte Johann Sebastian Bach gewonnen werden konnte.

Neben Anerkennung scheint Widerstand ein geeigneter Gradmesser für die Ausbildung von Individualität. Bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem drei Jahre älteren Orchestermusiker wurde Bach „herumb gezerret, geschimpfet und geschlagen“, trug aber, schon mit zwanzig Jahren vollendeter Hofmann, seinen Degen bei sich, natürlich nur, um sich zu „defendieren“. Übrigens war der Anlass, dass er seinen erregten Schüler einen „Zippelfagottisten“ nannte. Anspruchsvolle Choräle kamen dagegen bei den Vorgesetzten nicht gut an, die sich über „wunderliche variationes, frembde Thone“ und eine daraufhin „confudierte Gemeinde“ beschwerten.

Den Gipfel der Wertschätzung erreichte Bach in seinem letzten Jahrzehnt, als er in Berlin beim gerade selbst konzertierenden Friedrich dem Großen vorgestellt wurde, der sein Flötenspiel sofort unterbrach, um eine aus dem Stegreif zu spielende sechsstimmige Fuge zu hören.

Außer dem Topos Könige und Künstler ziehen sich weitere Themen durch die Jahrhunderte: Angesichts der beruflichen musikalischen Möglichkeiten der zweiten Ehefrau Anna Magdalena dürfte Alma Mahler die Emanzipationslinie nicht eben nach oben ziehen; wie Martin Heidegger neue Studenten frug: „Sprechen Sie Altgriechisch?“ erkundigte sich Bach „Spielen Sie Fugen?“; die nicht überlieferte Gesprächskultur im Bach`schen Hause bei hochkarätigen Teilnehmern lässt Sehnsucht nach einem aufzeichnenden Platon oder Tonbandgerät aufkommen und wie bei der Neuen Wiener Schule dürfen Fachleute die adäquate Wiedergabe der Musik beim Partiturlesen genießen, weil das Ohr die vielen Feinheiten gar nicht aufnehmen kann.

Das musikalische Werk wird vorbehaltlich eines angekündigten, ergänzenden Bandes nicht systematisch, doch mit anspruchsvollen Notenbeispielen kursorisch auf hohem Niveau behandelt. Studium und Verarbeitung sämtlicher vorangegangener Stilrichtungen sowie Wirkung auf die folgende Generation stellt Wolff hervorragend dar. Überraschend für die strenge Barockzeit sind Freiheiten beim Umarbeiten von weltlichen zu geistigen Werken, ohne Umschweife wird aus Tonmaterial für Herkules solches für Jesus.

Nebenbei hat der Autor noch ein Notenbeispiel parat, das in zwei Takten als Vorläufer der Zwölftonmusik durchgeht und ein Rätsel, dessen prosaische Erklärung so interessant bezüglich barocker Philosophie und Weltanschauung war, dass der Rezensent etwas nachvollziehen konnte, was er zu Beginn des Abschnitts nicht einmal als Problemstellung verstand. Fördern und Fordern muss sich ja nicht auf Kindererziehung beschränken!

 

Zur der zeitgenössischen Gelehrsamkeit noch eine Bitte: Manche Tabellen und Listen, auf die sich hauptsächlich die anfangs angesprochene Detailversessenheit bezog, mögen überflogen werden, aber lesen Sie bei der Auflistung im Kapitel 9 unter der Rubrik „Professoren-Kollegen und Studenten“ jedes Wort. Hier gilt statt dem späteren „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ ein ehrfürchtiges „Unter den Perücken Wissen ohne Lücken“.

In der Mitte des Buches ein Leipziger Universitäts-Mikrokosmos, gekrönt von der Beziehung in den Rahmenteilen zwischen den ihrer Zeit verhafteten, ihre Zeit bestimmenden und in die Zukunft weisenden Universalgelehrten Johann Sebastian Bach und Abraham- pardon, Isaac Newton.

 

Frank Rüb, April 2021