Martin Gregor-Dellin "Richard Wagner"

Martin Gregor-Dellin

Richard Wagner. Sein Leben – Sein Werk – Sein Jahrhundert

Piper-Verlag

€16.99

 

Um das Interesse des Lesers nach den Rolling Stones wieder auf klassische Musik zu lenken, muß schon eine ultimative Skandalnudel her. Keiner Diskussionen nach Eifersüchteleien bedarf es, die Wahl Richard Wagner zu rechtfertigen, er übertrifft sie alle. Brian Jones sitzt zu Füßen von Howlin-Wolf? Bayreuth liegt zwanzig Jahre dem brüllenden Onkel Wolf zu Füßen. Die Hells-Angels als Ordnungshüter? Die SS schmettert Trompetenfanfaren zum Vorstellungsbeginn. Und während die nostalgische Neuauflage des Hyde Park-Konzerts dem Augenschein nach ohne Sicherheitsvorkehrungen reibungslos und friedlich verlaufen wäre, kam es beim sogenannten Jahrhundert-Ring zu einer wüsten Saalschlacht mit ramponierten Ohrläppchen, zerrissenen Pelzmänteln und zerbrochenen Freundschaften. Auch textlich ist Jagger mit seinen imaginierten Verführungen Minderjähriger im „Stray Cat Blues“ ein Waisenknabe gegen Wagners Triebmonster Rienzi – „Roma heißt meine Braut“. Und gab der Stones-Frontmann Privatkonzerte vor Marianne, Bianca und Jeryl gleichzeitig? Wagner musizierte vor seiner Geliebten (finanziert von deren Gemahl), seiner Noch-Gattin und seiner Zukünftigen und kümmerte sich nebenbei noch um die Emanzipation, zwar nicht der Frau, aber immerhin der Dissonanz.

Sollten gegenwärtig noch faschistische Wagnerianer herumgeistern, mögen sie diesen Stachel im Fleisch ständig schmerzlich spüren, daß ihr Idol der Gründervater der „entarteten“ Musik ist. Die übrigen Freunde des Komponisten dürfen den Symbolcharakter der Episode genießen, in der das Energiebündel bei einer waghalsigen Bergwanderung dem Führer davongelaufen ist.

Die umfassende Biographie Martin Gregor-Dellins, 900 Seiten stark, knapp vierzig Jahre alt und bis heute unerreicht, bietet reichhaltigen und erhellenden Erzählstoff dieser Art, bis hin zum Nachweis, daß es nicht der übermäßige Genuss italienischen Speise-Eises war, der zum im Fiebertraum  entstandenen Rheingold-Vorspiel führte. Eingebettet in souverän skizzierte historische Hintergründe, angenehm ausführlich bei epochaler Wichtigkeit wie Befreiungskriege im Geburtsjahr 1813, 1848er Revolution und Reichsgründung 1876 - nein, halt - das waren die ersten Festspiele, das Vorspiel Bismarcks hatte schon fünf Jahre auf dem Buckel,  erscheint plastisch und quellenreich ein Leben, welches für mehrere gereicht hätte.

Von den Kompliziertes und Besonderes verheißenden Kindheitstagen (Wagners Stiefvater grübelte schon angesichts des vierjährigen „Sollte er Talent zur Musik haben?“) über den jugendlichen musikalischen Bildungsweg als Autodidakt und Didakt, der schnell merkt, was aus Beethovens Spätwerk und dessen akribischem Partiturstudium herauszuholen ist, bis zum, bitte separat und ohne Bindestrich zu schreibenden, nationalen und sozialen Revoluzzer, der zur Lebenshälfte seine Themen beisammen hat und sich neben der Komposition mit Libretto, Musiktheorie, Dramentheorie, Mäzenatensuche und Opernbau beschäftigt, kommt der Leser aus dem Staunen und mal schmunzelndem, mal grimmigem Kopfschütteln nicht heraus.

Mit dezentem Urteil und psychologischem Fingerspitzengefühl treten alle wichtigen Lebenswegbegleiter auf – ironisch der Pyromane Bakunin mit dem Ratschlag nach dem großen Brand des Bestehenden, „dann brauchst Du nicht mehr so viele Instrumente“, hellsichtig die unnahbare Cosima über die Diskrepanz des Menschen und des Philosophen Nietzsche, tragisch Letzterer als verschüchtertes Opfer des sinnlichen Lebemenschen, welches ihn charakterlich und philosophisch wie niemand sonst deutet und durchschaut, nach einem ausführlichen Zitat fragt Gregor-Dellin mit Recht: „Hat je einer Wagner besser verstanden?“ Dafür war dieser trotz aller Nervosität und Fragilität im Alltag versierter und fester. Wo Nietzsche bekanntlich beim Anblick eines malträtierten Pferdes dem Tier schluchzend um den Hals fiel und wahnsinnig wurde, reagierte Wagner in der gleichen Situation energisch und stauchte den brutalen Kutscher zusammen. Nur der Götterdämmerungs-Gaul muß im Dienst der höheren Sache seiner Herrin Brünhilde in Siegfrieds lodernden Scheiterhaufen folgen, aber das war wahrscheinlich eher als Belohnung gedacht.

Wir wären beim Werk, für welches der Autor hinsichtlich Analyse und Aufführung Worte findet, deren Frische und Intelligenz den Eindruck erwecken, als läse man das erstmalig und endgültig (und den Rezensenten zum Stabreim animieren, nach diesem Satz wieder normal weiter…). Die sich durchs Gesamtwerkt variierend schlängelnde Quinte wird mit treffsicheren Beispielen vorgestellt - man vergleiche Holländer-Motiv, Meistersinger-Motiv und Lohengrin-Hochzeitslied - , der Dichter Wagner dem Musiker ebenbürtig zur Seite gestellt, zumindest in seinen besten Momenten, wie den dramaturgisch genialen, dabei inhaltlich völlig verschiedenen zweiten Akten von Tristan, Meistersingern und Götterdämmerung. Nicht viele kommen auf die Idee, nach der intensivsten und extremsten romantischen, weltverlorenen Liebesnacht erstmal dem Betrogenen das Wort zu erteilen. So entschärft der Dramatiker Wagner seine eigenen Opern etwas von den Botschaften des Denkers Wagner.

Der Umgang mit diesem (und in der zehnbändigen Jubiläumsausgabe von Wagners Werken ist das Verhältnis Dichtung zu Theorie immerhin 4 zu 6) ist ein weiteres Meisterstück Gregor-Dellins, der sich durch noch weit mehr Texte und Satzungetüme kämpfen musste. Er trennt sorgfältig rein Ekelhaftes rund um das „Judentum in der Musik“, kruden Weltanschauungs-Wust, mal schlechtverdaut, mal originell Philosophisches, Sozialistisch-Revolutionäres, das bei Marx genauso stehen könnte und literarisch Gelungenes, wie die „Pilgerfahrt zu Beethoven“. Das Unbe-Hagen (!) überwiegt, aber immerhin verfügt Wagner über etwas, das bei seinen antisemitischen und nationalistischen Verehrern die große Ausnahme sein dürfte: Humor und Selbstironie. Um die Besprechung mit einem aus unterschiedlichsten Tönen zusammengesetzten Dreiklang zu beenden, dessen Dissonanz den Tristan-Akkord in den Schatten stellt, zunächst die ungewollte Ironie Hitlers mit bitterstem Beigeschmack: „Solange Wagners Musik gehört wird, wird man auch meinen Namen nennen.“ Wie jovial und angenehm es hätte sein können, berichtet der Freund Friedrich Pecht über Wagners fehlgeschlagenen Versuch, ihn für komplizierteste Philosophie zu begeistern: „Zum Beweis las er mir eine Stelle vor, die ihm eben besonders imponiert hatte. Da ich sie nicht ganz verstand, bat ich ihn, sie nocheinmal zu lesen, wo wir sie dann beide nicht verstanden. Er las sie also zum dritten- und viertenmal, bis wir uns endlich ansahen und fürchterlich zu lachen anfingen…“. Die letzten Worte bekommt demonstrativ der große Wagnerverehrer Reich-Ranicki, der auf die Frage, wie er als Jude diese Musik hören könne, antwortete: „Wissen Sie, es gab viele Leute, die waren genauso schlimme Antisemiten. Aber sie haben keinen Tristan geschrieben!“ Und seine Kurzzusammenfassung, warum die Meistersinger von Nürnberg die perfekte Nationaloper für Deutschland abgeben, könnte Modell sin, wie Monty Pythons „All English Proust Summarize Competition“ in den zugestandenen zehn Sekunden zu gewinnen wäre: „Im Ersten Akt betet das Volk, im Zweiten prügelt es sich, im Dritten sucht es sich einen Führer.“

P.S.: Sollten Sie Bekannte haben, die im Opernbetrieb tätig sind, bewahren Sie bitte absolutes Stillschweigen über diesen Text – ich möchte nicht, daß ein aktualisierungswütiger Intendant den Regie-Einfall umsetzt, Tannhäuser seinen platonische Minnesänger-Kollegen mit einem dröhnenden „You Can Start Me Up“ in die Parade fahren zu lassen.

 

Rezension Frank Rüb, Mainz