Anton Bruckner

Karl Grebe- Anton Bruckner Rowohlt-Verlag € 8,95

 

Die Stellung Anton Bruckners in der Musikgeschichte verdankt sich seinen neun Symphonien, aber dies hier ist zunächst einmal ein Requiem. Mit den sogenannten rororo-Bildmonographien verschwindet demnächst eine langlebige, legendäre Reihe des deutschen Buchhandels von der Bildfläche- nicht zuletzt wegen der Bildschirmoberfläche. Über Jahrzehnte hinweg erschien monatlich ein Band, mit großem subjektiven Spielraum von Experten verfasst, liebevoll mit Bildmaterial, Zitaten und, bei Komponisten, Notenbeispielen angereichert und mehr als nur eine Einführung in Leben und Werk bietend. Mehr als 600 Monographien sind erschienen, der vorliegende Titel kam 1972 heraus und brachte es auf 17 Auflagen bis 2008. Abonniert auf die Reihe war die Bibliothek des ZDF, die vor 10 Jahren aufgelöst wurde, wenn Sie sich in der letzten Zeit über das Fernsehprogramm geärgert haben- es findet sich für alles eine natürliche Erklärung.

 

Eine übernatürliche Erklärung, nur zur Information, was es alles so gibt, für die Persönlichkeiten Bruckner, Mahler und Schönberg liefert ein Buch im Verlag Freies (!) Geistesleben, dessen Autor, ein versierter Karmaforscher, nachweist, dass die Drei schon einmal körperlich materialisiert im Römischen Reich auftauchten und zwar im Geschlecht der Flavier. Wer in solche Erkenntnisbereiche vordringt und dem Leser verschweigt, dass Beethoven Cäsar und Wagner Jesus war, wird gerechterweise keiner Rezension gewürdigt.

 

Völlig frei von Esoterik ist auch unser Verfasser Karl Grebe nicht, hin und wieder ist von archaischen Tiefenschichten in Bruckners Werk die Rede, aber hören Sie einmal die neunte Symphonie und schauen sich das Hutzelmännchen auf dem Foto Seite 105 an, das gerade daran arbeitete- da reicht dann doch der gesunde Menschenverstand alleine nicht aus.

Grebe, 1901 geboren, arbeitete nach dem Krieg als Musikwissenschaftler, sein Bruckner-Erweckungserlebnis hatte er als Achtzehnjähriger bei der ersten zyklischen Aufführung sämtlicher Symphonien durch Arthur Nikisch, dazwischen lag sein Tötungserlebnis als Wehrmachtsoldat in Diensten eines andern Ober-Österreichers. Im Falle eines Endsiegs wäre Linz, Bruckners wichtigste Station vor Wien, übrigens zur Weltstadt der Bruckner-Kulturpflege geworden, der Führer machte eben vor gar nichts halt, außer vor Moskau.

Nun zur Lebensbeschreibung des Komponisten. Gesunder Menschenverstand ist nicht eben das Markenzeichen eines Genies, aber mit seiner Kombination von Weltfremdheit, Unbeholfenheit und Unterwürfigkeit dürfte Bruckner einzigartig dastehen.

Ein Dreißigjähriger, seiner infantilen Ausstrahlung wegen von jedermann geduzt und „Tonerl“ genannt, ein Fünfzigjähriger, nach der Uraufführung seiner dritten Symphonie heulend von seinem kleinen Anhängerkreis umringt, weil die bösen Wiener Philharmoniker absichtlich schlecht spielten (aus heutiger Sicht eher um zu vermeiden, dass sie unabsichtlich schlecht spielen) und ein Vierzigjähriger in einer Situation, über die der Autor sich jeder Spekulation enthält- im Publikum bei der Weltpremiere von Tristan und Isolde. Dass der völlig Unbekannte da überhaupt hinkam zeigt nebenbei, dass die oberen Zehntausend im 19. Jahrhundert ihre Zahl noch gar nicht verdienten.

Hier liegt wohl ein wichtiger Schlüssel zum Werk: Das scheue Tonerl und die Grenzen der Tonerlität. Seine bisherige Musiklehre- und die Lehrzeit war länger als Schuberts Leben- bestand aus konservativem Harmonie- und Kontrapunktunterricht, Fugen, Chorälen und Orgelimprovisation, die hierin erworbene Kompetenz traf mit langem Atem und schlummerndem Genius auf die Speerspitze der Progression.

Mit Zuneigung, Sachkenntnis und Urteilsvermögen wird der Werdegang eines Menschen nacherzählt, dessen ländlicher Katholizismus so selbstverständlich war, dass er als sich Bewerbender vor den verdutzten Kontrahenten inbrünstig zum Gebet niederkniete, bevor er an der Orgel loslegte wie vom Teufel besessen, dessen katholischer Antisemitismus so selbstverständlich war, dass er als Lehrer jüdische Schüler frug, ob sie denn wirklich nicht an den Erlöser glaubten. Bemerkenswert dagegen- und hier haben wir das seltene Beispiel eines fairen Liebhabers-, dass gut 100 Jahre nach dem Aufeinandertreffen der damals feindlichen Lager um Bruckner und Brahms noch für gegenseitiges Verständnis geworben werden musste. Grebe rückt Mythen der glorifizierenden von ihm so genannten „Bruckner-Pietät“ zurecht und lässt den Gegnern Gerechtigkeit widerfahren.

Ein glänzendes Psychogramm der Protagonisten und der Musikstadt Wien.

Dazu passt die in der Textbeilage meiner Aufnahme der fünften Symphonie zitierte Aussage eines bemühten, aber verständnislosen zeitgenössischen Kritikers, er könne die kontrapunktischen Rätsels des Finalsatzes nicht lösen. Selig, die arm im Geiste, denn solche Probleme stellen sich nicht jedem Hörer.

Neben durchlaufenden Hinweisen auf musikalische Bildung, Aufführungspraxis und Kompositionsstandards gibt es noch einen rein musikalischen Anhang, der die perfekte Ergänzung zu dem bietet, was in Konzertführern steht. Der Themenaufbau der Hauptsätze und dessen Bedeutung für den weiteren Verlauf, die Struktur der hymnischen Adagios, die hohe Kunst der Modernisierung des traditionellen Tonsatzes („An ihren Scherzi sollt Ihr sie erkennen“) und die zyklische Rundung durch das Finale- alles eingebunden in die Entwicklung des Gesamtwerks. Ganz ohne Esoterik geht es auch hier nicht, der Verfasser unterscheidet vegetatives und spirituelles Komponieren und betreibt etwas Zahlenmystik mit der für Bruckner konstitutiven Formel 2:3.

Zahlenmystik ist nun von Bach bis Berg nichts Ungewöhnliches, ebenso wenig, dass die Noten friedlicher und verbindender sind, als alle Streitereien vermuten lassen.

Bruckner reiht sich da würdig ein. Von Haydns Reaktion auf Mozarts Tod im langsamen Satz seiner Symphonie Nr.98, über Beethoven, der in der Klaviersonate Nr. 12 seine eigene Beerdigungsmusik anfertigte und Bruckners erschütternde Töne am Ende des Adagios seiner siebenten Symphonie auf die Nachricht vom Tode Wagners bis zu Berg, dessen Requiem auf die früh verstorbene Manon Gropius im Violinkonzert grelle Trauerakkorde in einen Bach-Choral übergehen lässt.

Deren Mutter Alma Mahler-Werfel gebührt das Schlusswort, nicht nur, weil sie im Gegensatz zu ihrem Bruckner gegenüber im klassischen Dualismus befangenen Gatten Gustav („halb Genie, halb Trottel“) mit ihren zwei Nachnamen bei drei Ehemännern die 2:3-Formel in den Alltag übertragen hat, sondern weil sie früh die Rolle Anton Bruckners in der Musikgeschichte (und somit, dass er überhaupt eine hatte) kongenial durchschaut hat. Als sie ihren ersten Mann wegen ausnahmsweise ungebrochen-triumphalen Komponierens zur Rede stellte, stammelte dieser sich verteidigend: Aber Bruckner… Darauf Alma: Der darf, Du nicht!

 

p.s.: Der angegebene Preis gilt für das wahrscheinlich deutschlandweit letzte neue Exemplar an meinem ehemaligen Arbeitsplatz (Dombuchhandlung Mainz,Stand Anf.August 2020), angesichts der erwähnten 17 Auflagen dürften sich etliche Ausgaben auf dem antiquarischen Buchmarkt befinden.

 

Rezensent: Frank Rüb, August 2020