Mozart -

Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung

Laurenz Lütteken - C. H. Beck-Verlag €26,95

Epochenbegriff, permanente Aufgabe oder noch zu realisierender Endzustand? An der Aufklärung scheiden sich die Geister. Als Voraussetzung für das Verständnis der Lebenswelt Mozarts ist das durchaus zu begrüßen, denn, wie der Autor dieses Werkes zu Beginn mit souveräner, breitgestreuter und unaufdringlicher Sachkenntnis klarmacht, muß es mit äquivalenter Berechtigung auch heißen: In der Aufklärung scheiden sich die Geister. Lütteken skizziert die Debattenkultur als Ganzes und, weit über den behandelten Zeitraum hinaus, den Diskurs der Künste. Von der, für die sprechende Statue im Don Giovanni wichtigen, Beseelung des Leblosen als Thema der Antike, über die Stellung der Künste zueinander als Topos der Renaissance, zu einem Zitat Johann Gottfried Herders über Verschiebungen der Wertschätzung der Sinne, das im Jahre 1778 einen Großteil des hundert Jahre später entstehenden Nietzsche-Vokabulars vorwegnimmt. Die Erkundung des Immateriellen birgt Überraschungen bezüglich der Schattenseiten des Menschen in der, geläufig erst mit der Romantik verbundenen, Welt des Traums und Gegenläufiges in der Welt der Religion am Beispiel der beiden von Mozart erlebten Salzburger Fürsterzbischöfe. Scheinbare Rückwärtsgewandtheit schließt Beschäftigung mit vorrevolutionärem Schrifttum nicht aus. Zwei Mozart bekannte Protagonisten zeigen sogar: In der ach so rationalen Aufklärung scheiden die Geister auch mal aus. Hier der Verfasser des Artikels „L’Onanisme“, dort der Herausgeber der nach wenigen „Klumpen“ [sic!] eingestellten Zeitschrift „Scheißereyen“. Und mittendrin - das Wunderkind. Dieser Ausdruck war religiös und weltlich ernst gemeint. Der seiner unfassbar früh sich äußernden Talente wegen als göttlich bezeichnete Knabe stand im Mittelpunkt einer vom Vater und den Stadtoberen initiierten „Salzburger Staatsaktion“. Als Ersatz für die gestohlene Kindheit erhält der junge Wolfgang einen räumlichen und menschlichen Horizont, der nicht nur für seine Zeit einmalig war. Reisen in die fortgeschrittenen Großstädte Paris, London und Amsterdam, Kontakte zu Klerus und Hochadel hatten dabei durchaus nicht das Ziel, Mozart die Welt zu zeigen - vielmehr wurde er selbst der Welt gezeigt. Dabei erlernte er Kommunikation, Verstellung und die Kunst der Menschenführung - und legte sich ein nur bedingt gesundes Selbstbewusstsein zu: „Jemand wie ich wird nur alle hundert Jahre geboren“. Der nun wirklich aufklärerische Reformeifer im Wien der 1780er Jahre fördert die Existenz bürgerlicher Musikkultur und ein vom Tauschprinzip lebendes, von Mozart weidlich genutztes Mäzenatum, in seinem Falle dank metaphysischer Restbestände sogar ohne direkten Tauschvollzug, die Tatsache seines bloßen Daseins in ihrem Umfeld war finanzkräftigen Gönnern Wert an sich. Natürlich lieferte der immer noch - mittlerweile auch von sich selbst - als Wunder titulierte Musiker reichlich, auch in den Debatten seiner „Akademien“ genannten Vorführungen, mit einer kleinen Abwandlung der gleichzeitig weiter nördlich entstehenden Maxime: Habe den Mut, dich meines Verstandes zu bedienen. Wie im gesamten Europa war es bis 1789 auch im Mozartischen Umfeld eine Revolution von oben - und sein Austreten nach unten „Pöbel bleibt Pöbel“ glücklicherweise kein Vorbild für Susanna, Figaro, Sarastro und Pagageno. Vor dem Übergang zum musikalischen Gehalt des Buches noch ein erstaunliches Zitat vom Vater Leopold über seinen Sohn: „Es sind zween einander entgegen stehende Sätze, die in ihm herrschen - zu viel oder zu wenig und keine Mittelstraße“. Auch so sehen Götterlieblinge aus! Die vom Vater diagnostizierten seelischen Schwankungen waren nach zeitgenössischem Verständnis Kennzeichen von für schöpferisches Gelingen unabdingbarer Melancholie; angereichert mit Herrschsucht, Sendungsbewusstsein und diktatorisch-dialogischem Genie hat Lütteken die Zutaten eines üppigen Werkes, dem er sich mit ausgewählten Schwerpunkten in der zweiten Hälfte des Buches zuwendet, beisammen. Für Mozarts musikalische Umsetzung der in Salon und Gespräch beanspruchten Deutungshoheit wählt er die vorzügliche Bezeichnung „absoluter Komparativ“, also dramatische Multiperspektivität gelenkt vom komponierenden Alleinherrscher; für die hieraus resultierende Gattungserweiterung den nicht minder gelungenen Ausdruck „Grenzerweiterung nach innen“, da die Gesetze der Schicklichkeit und viele Konventionen eingehalten werden. Eben diese weitgehende Orientierung am Herkömmlichen macht Hochmodernes, wie den Einbruch „uneigentlicher“ Musik (Militärmarsch im Figaro) lange vor Mahler - bei Beethoven war das selten und gewollt auffällig -, für die Wahrnehmung des Hörers eher beiläufig. In einem Punkt möchte ich dem Autor seiner eigenen Argumentation wegen widersprechen (und hoffe auf Billigung, wir sind ja nicht in einem Mozartischen Salon): Lütteken behauptet einen vom Komponisten gewünschten Vorrang des Affekts gegenüber der mitvollziehenden Analyse, muß aber bei komplizierten Opernszenen sehr genau den musikalischen Hintergrund und das szenische Geschehen beleuchten, damit sich der gewünschte Affekt korrekt einstellen kann. So verfuhr auch Joseph Haydn, dem beim Studium der Figaro-Partitur (Analyse) „der Nordwind die Schlafhaube vom Kopf“ weht (Affekt). Angesichts der seither ungebrochenen Popularität der Hochzeit des Figaro möchte ich sogar einen Kausalzusammenhang mit dem zunehmenden Verschwinden des nächtlichen Kleidungsstückes herstellen, zumindest in Gegenden mit häufigem Nordwind. Das Finale furioso führt uns in die heutige tschechische Hauptstadt, zur Zeit der Uraufführung des Don Giovanni politisch (schon mangels eines Tschechien) eher unbedeutend, aber von einem eigenwillig-liberalen kulturellen Klima geprägt, mit regem Interesse an geistreichem Spiel, Seelenkunde und daraus resultierendem relativem Wahrheitsbegriff. Letzte Station dann die deutsche Geistesmetropole Weimar, politisch s. o., wo die im Jahrzehnt nach Mozarts Tod dank Goethes wachsender Teilnahme immense Zahl von Opernaufführungen mit einem abbildfreien, im nahe gelegenen Tiefurter Park errichteten Denkmal einhergeht, vom Dichter organisiert und mit hochwichtigem Bezug zu seinem Faust. Wo bleiben die Denkmäler für Donna Anna und Gretchen? Einen Bezug zu Mozarts Salons und Akademieen findet der Autor im dort erscheinenden, die sich abschottende Hochkultur repräsentierenden, „Tiefurter Journal“, einer Zeitschrift, die den kulturellen Aufklärungsgedanken auf die Spitze treibt und ad absurdum führt - die Autoren sind nahezu identisch mit den Lesern. Zur Förderung der Hubermas’schen Lehre vom herrschaftsfreien Diskurs und Strukturwandel der Öffentlichkeit erklären wir ihn hiermit zum Ehrenbürger Prags und zum Pflichtfach in Weimar. Über den aufgeklärten Absolutismus sind wir mit dem besprochenen Buch absolut aufgeklärt. Mozarts und Goethes Werke dürfen wir ja hoffentlich behalten.

 

 

Rezension von Frank Rüb, Mai 2022