Miss Island - Der Sommer meiner Mutter

Doppelrezension

Audur Ava Olafsdottir - Miss Island, Insel-Verlag €11, -
Ulrich Woelk - Der Sommer meiner Mutter btb-Verlag €11, -

Zu Beginn der 1960er Jahre liegt Reykjavik für eine junge Frau gesellschaftlich am Ende der Welt. Und selbst dort muß die Protagonistin des erstgenannten Romans mittels stundenlanger Busfahrt erstmal hin. Ende der 1960er Jahre starrt ein zehnjähriger Junge, der Autor des zweitgenannten Romans, Richtung Cape Canaveral. Um den ersehnten Aufbruch seiner Helden mittels stundenlanger Raumfahrt Richtung Mond zu verfolgen. Und die Musik spielt dazu, dezent im Hintergrund, aber vielsagend bei Olafsdottir, als Initiation und Horizonterweiterung des jungen Ulrich bei Woelk. In beiden Büchern unverzichtbarer Begleiter und Signal für persönliche und allgemeine Emanzipation, bietet sich ein Vergleich zweier Werke an, deren jeweilige Haupthandlungen den Zeitraum von „Please Please Me“ bis „Abbey Road“ umfassen. Zunächst aber eine getrennte Inhaltsbeschreibung.
 Obwohl mit allen landwirtschaftlichen Fähigkeiten zur Führung des elterlichen Hofes versehen, ist Hekla, die Hauptfigur von Miss Island, von Kindheit an bücherbesessen, im oben erwähnten Hauptstadt-Bus hat sie ihre Schreibmaschine, eine englische Ulysses-Ausgabe und ein entsprechendes Wörterbuch dabei. Ihre schnell gefundene Arbeitsstelle als Kellnerin ist Mittel zum Zweck, auf unbenutzte Servietten werden Einfälle niedergeschrieben, die traumhaft zahlreichen Buchhandlungen (und Plattenläden) rasch ausfindig gemacht und eine Beziehung mit einem selbsternannten Dichter begonnen. Der ist zwar glühender Sozialist, erwartet aber, dass nach dem Bezug einer gemeinsamen Wohnung das warme Essen ohne eigenes Zutun auf dem Tisch steht und das gebügelte Hemd auf gleiche Weise im Schrank hängt. Seine Welt, nicht seine Weltanschauung, bricht zusammen (und wird mit tüchtig Alkohol wieder zusammengefügt), als er bemerkt, dass seine Freundin auch besser als er schreibt und unter männlichem Pseudonym schon mehreres veröffentlicht hat - und als er das wunderschöne Kleid im besagten Schrank entdeckt, welches ihr Jugendfreund, der „schwule Seemann“, vor seiner Abfahrt für sie genäht hat. Auch spürt er, dass Hekla musikalisch fortschrittlicher ist mit ihrem Gruß über den Seemannssender gegenüber seiner Begleitmusik bei trautem Zusammensein, konkret geht es von Love me tender zu Love me Do. Das Ungenügen läßt Hekla das Weite suchen, in Kopenhagen besucht sie mit dem Jugendfreund ein Beatles-Konzert und ärgert sich über das die Musik übertönende Fan-Gekreische, zum Abschluss gibt es einen symbolträchtigen selbstisch-selbstlosen Akt des verlassenen Freundes gegenüber dem Paar, dessen männlicher Teil ein besseres Mittel gegen Homophobie sein dürfte als alle Sternchen des Universums. Diese sind Objekt der Begierde des jungen Ulrich Woelk - bis ein Subjekt der Begierde auftaucht. Alle verfügbaren Berichte, Spiel- und Bastelsachen zur bevorstehenden Mondlandung und zur Astronomie hat er zusammengetragen und sich ein beträchtliches Wissen angeeignet, da bekommt seine Familie neue Nachbarn mit pubertierender, dreizehnjähriger Tochter, die dem drei Jahre jüngeren und sechs Jahre unreiferen Knaben von wichtigen Dingen zu künden hat: Dem amerikanischen Vorgehen in Vietnam, dem weiblichen Körper und ihrer aktuellen Lieblings-LP - Waiting for the Sun. Das sitzt, obwohl der titelgebende Song bekanntlich gar nicht drauf ist, dafür das „Celebration of the Lizard“-Fragment Not to touch the earth - ein bislang ungedeuteter Kommentar Jim Morrisons zu Neil Armstrong? Jedenfalls ist der Junge bald nicht mehr hinter dem Mond zuhause, erste Ahnungen vom weiblichen Körper werden behutsam erweitert. Die bekam er übrigens, als er seine Mutter beim Kaufversuch ihrer ersten Jeans begleiten durfte. Es blieb, so viel sei verraten, beim Versuch. Nicht verraten wird der Überraschungseffekt, der sich einstellt, als alles auf eine Goethe’schen Wahlverwandtschaften-Handlung zwischen der Mutter des Mädchens und Ulrichs Vater hinauszulaufen scheint. Vom Schwung der progressiven Nachbarn bekommen die eher behäbigen Eltern des Erzählers zumindest ein Stückchen ab, vielleicht kann es ja als Zeichen für in der Luft liegenden Fortschritt gedeutet werden, wenn die von Konservativen gern für ihresgleichen beschlagnahmte „schweigende Mehrheit“ während des Schweigens wenigstens zuhört - es wäre ein großer Schritt für die Menschheit. Den hat der Knabe natürlich versäumt, er schlief, als der Adler landete. Zeit für eine Zusammenschau, wäre Hekla (Vulkan) ein Junge geworden, hätte sie den Namen ihres jüngeren Bruders erhalten, Örn (Adler). Den Stolz des Raubvogels und die Eruptionskraft des Vulkans muss „Miss Island“ auch aufbringen, schon um die ständigen Aufforderungen zur Teilnahme am gleichnamigen Wettbewerb (nebst vorher drohender Vergewaltigung!) abzuwehren. Neben der Erschütterung, was als „normal“ galt, steht beim Lesen die Freude über die verfügbaren Emanzipationsmittel im Jahrzehnt von Popkultur und Jugendbewegung - Bücher und Schallplatten - und das Staunen über die Verteilung von Zufall und Charakter: Heklas gleichgesinnte Jugendfreundin wird beim ersten Mal schwanger und das war’s dann. Familie Woelk ist nicht frei von Tragik und Rückständigkeit - Ulrich hat selbstredend einen Stuka-Onkel -, aber die aufzubringende Kraft zur Selbstverwirklichung im Vergleich umgekehrt proportional zum Verhältnis Vulkan/ Raumkapsel. Prägnantes Beispiel: Als Kellnerin hilft gegen männliches Gegrapsche nun das scheinbar zufällige Verschütten heißen Kaffees auf den Ärmel des Täters und ist beim Arbeitgeber („Sie tragen zum Bedienen einen Rock.“) wegen potentieller Verärgerung des Kunden („Warum bedeckt der denn diese hübschen Knie?“) nicht gern gesehen. Die selbstbewußte, am Steuer sitzende Woelk-Nachbarin dagegen überzeugt die männliche Verkehrskontrolle durch beiläufiges Öffnen eines Knopfes ihrer Bluse, dass die Ampel durchaus nicht rot war - der Polizist sieht daraufhin klares Gelb mit einem kleinen Rest von grüner Farbe… Ein musikalisch-literarischer Blick auf die beiden Bücher bietet ein klares Bild: Olafsdottir schreibt in kurzen Szenen, wechselt souverän zwischen Rückblicken, Introspektionen und Handlungsfortlauf und überlässt durch kluge abrupte Abbrüche ihren Lesern das Weiterdenken. Die Musikbeispiele sind treffend und sprechend gewählt, von Schostakowitsch bis Cliff Richards. Woelks autobiographischer Roman liest sich süffig und einheitlich, der Verlauf ist zielstrebig-linear und die Doors ein passender Soundtrack, der aber auch anders hätte gewählt werden können. Wer diese Doppel-Rezension als Wettbewerb sehen möchte, es gibt perfekte Situationen für den zweiten Sieger: Gegen meine Gewohnheit schnappte ich am Feierabend eines buchhändlerisch anstrengenden dritten Adventssamstages das herumliegende Leseexemplar von Woelk und dachte nach einem Blick aus dem Busfenster trotz aller innerlichen Müdigkeit, dass es doch schade sei, wie nahe dem Ziel das Fahrzeug schon war. Am vierten Advents-Samstag, traditionell Höhepunkt des Einzelhandels, wiederholte sich dieser Vorgang, diesmal mit Vorsatz. Wo wir schon aus der Werkzeugkiste plaudern: Miss Island entdeckte ich zufällig als Fortsetzungs-Lesung im Radio (fragen Sie im Interessenfalle nach dem Hörbuch, gelesen von Linn (!!!) Reusse, die fragil-selbstbewusste Stimme ist kongenial). Nachdem die wachsende literarische Begeisterung mit einzelnen musikalischen Einsätzen angereichert wurde, beschloss ich, wenn noch eine Steigerung käme, wäre eine Besprechung an diesem Ort gerechtfertigt und es kam das erwähnte Kopenhagener Beatles-Konzert. Und als die Idee der Gegenüberstellung beider Romane reifte, sprach der „schwule Seemann“: Dass Homosexuelle frei werden leben können, ist genauso unwahrscheinlich wie das Spazierengehen auf dem Mond. Quod erat demonstrandum

Rezension: Frank Rüb

Februar 2023