Susann Pásztor - Genesis oder Warum das Lamm am Broadway liegen blieb

Kiepenheuer & Witsch €10,-

Wir müssen reden. Über Bildungsverfall. Über die Jugend von heute. Als ich den hier zu besprechenden Band telefonisch bestellte, bemerkte der durchaus geschätzte jungeBuchhändler-Kollege auf meinen Hinweis, dies sei in der „Musikbibliothek“ genannten Reihe der erste Nicht-Mainstream-Titel, wie es richtigerweise im mich aufmerksam machenden Zeitschriften-Artikel hieß: „Aber Genesis ist doch Mainstream.“Gewiß, nachdem „das Lamm am Broadway liegen blieb“. Vielleicht frage ich gelegentlich nach, ob er meine Erwähnung der „Apocalypse in 9/8“ ernst nahm. 666 freut sich bestimmt über neue Freunde.
Jubilieren wird er über das Büchlein der Schriftstellerin Susann Pásztor, drei Jahre älter als ihre Protagonistin Mimi, die mit dreizehn dank ihres vier Jahre älteren Bruders Joachim, auch Jockel und Joe genannt und Mitglied der Schülerband mell-o-trons, reichlich früh vom Wohnzimmer ins Neue Jerusalem mitgenommen wird, und zwar in Form ihres ersten Konzertbesuchs, zu dem sie sich durch das Bestehen eines Genesis-Quiz’ erst qualifizieren muß. Was so leicht nicht ist, die Frage nach dem besten Song verlangt Variationen und (Selling England  by the Pound ist frisch erschienen) Mut zur Aussprache: „First of Fiff - ach, Mann.“ Später lernt sie sogar „supernatural Anaesthetist“ sagen… Zwar ist ihr musikalischer Horizon (sic!) noch begrenzt („Hey Joe, rief Axel“, - die mell-o-trons sind selbstredend komplett anwesend - „keine Ahnung, warum Benno und Ziggy daraufhin so lachten.“), doch sie macht ihre Beobachtungen (Axel verlangt Harold the Barrel als Zugabe, „aber niemand beachtete ihn“) und sie macht Beute. Nach dem Auftritt findet sie auf der Damentoilette die für „Watcher of the skies“ benutzten „Batwings“ ihres angehimmelten Idols, nennen wir ihn „First of Five“. Mimi ist Realistin genug, ihre Reliquie nicht für das Original zu halten, obwohl Gabriel sich im roten Kleid sogar auf die Damentoilette hätte schmuggeln können - und Idealistin beim Versuch der Kontaktaufnahme. Der persönliche Brief bleibt unbeantwortet, doch Charisma-Records liefert: T-shirts und eine Autogrammkarte („Rutherford und Hackett schmieren wie Sau“).

Und Idealisten, die sich nicht desillusionieren lassen, sind ja bekanntlich in der Lage, neue Realitäten zu schaffen. Materiell durch ein selbst gemachtes Fan-Magazin, menschlich durch die Inspiration einer Mitschülerin zu einem Suzi-Quatro-Fan-Magazin und das Auftauchen eines erreichbaren Schwarms: Niklas, sympathisch, einfühlsam, attraktiv und, forth but not fifth: Genesis-Kenner.

Um das erwähnte Magazin zu füllen, das zu Spitzenzeiten mittlere zweistellige Auflagen erreicht, genügt das nicht, hier kommt Hilfe von der Insel. Die mell-o-trons, die in diesem Teil einen, sagen wir: engagierten Auftritt hinlegen, haben Verbindungen zum Mitglied eines Liverpooler Fan-Clubs und Mimi ist von dessen (aus dem Melody Maker geschöpften) Wissen beeindruckt. Die Jungs erklären: Alan ist ENGLÄNDER. Dagegen ist kein Kraut(-rock) gewachsen, Gelegenheit für einen kurzen Einschub. Die Frage lautet: lohnt es sich, ein Buch zu erwerben, das in einer Stunde durchgelesen ist, es handelt sich um großzügig gedruckte 100 Seiten im DIN-A-6 Format? Die Lesezeit liegt knapp über der Hörzeit der bis dahin erschienenen längsten Genesis-LP - und es ist unwahrscheinlich, daß es annähernd so oft gelesen wird, wie diese gehört werden sollte.

Die Antwort lautet: Ja, wenn sie multiplizierende Kommunikation einsetzen. Ausleihen, Austauschen, Aussprechen und Erinnern, Erneuern, Erweitern: Ziehen Sie alle Register und die Stunde führt zu lebhafteren Gesprächen, als ein überdurchschnittlich begabter Ulysses-Lesekreis sie zu führen imstande ist. Zum Beispiel eben über den Vorsprung der britischen Musikpresse, als in Deutschland noch Stillschweigen oder Verständnislosigkeit herrschten; die bürgerlichen Qualitätszeitungen benutzten für „Beatles“ und „Rolling Stones“ lange Zeit Anführungszeichen wie für die „DDR“ um zu signalisieren, daß man noch nicht einmal die Legitimitätsfrage für beantwortet hielt.

Desto größer in der vorliegenden Erzählung die Vorfreude, als die Gerüchteküche ein Lamm im Ofen vermeldet. Die Wartezeit im Sommer 1974 will allerdings im Zeltlager statt mit Mellotron mit Mundorgel vertrieben werden. Als Mimi vom südenglischen ehemaligen Herrensitz erfährt, auf dem das ersehnte neue Album aufgenommen wird, imaginiert sie schnieke Butler mit blütenreinem Notenpapier und inspirierende frühmorgendliche Ausritte auf Vollblutpferden seitens Gabriels, während Collins mit den Küchenmädchen schäkert. Als sie von den wahren hygienischen Zuständen vernimmt, macht sie umgehend die zuvor sich dort aufhaltenden Led Zeppelin verantwortlich. Und es stimmt ja: Jimmy Page verstand deutlich mehr von 666 als von effizienter Rattenbekämpfung, vielleicht schöpferisch verwandelt bei Raels Gedanken an Sex, Sex, Sex mit den drei schlüpfrigen Schlangenwesen.

Nun aber viel Vergnügen und Anregungen für die Vergegenwärtigung von Selbsterlebtem bei einem erzählerischen Glanzstück und Referenzwerk aus der Abteilung: Wo war ich, als ich zum ersten Mal die Platte X gehört habe? Mimi ist natürlich bei den um ein Mitglied dezimierten mello- trons, das zu den „Father of Intention“ abgesprungen ist. Dafür ist Niklas dabei, als das Lamm behutsam aus der befremdlichen Hülle geholt wird. Bilder schwarz-weiß, Texte ellenlang, schwierig und rätselhaft - doch es knistert (hoffentlich nur) vor Spannung. Man schweigt und lauscht, ersteres noch lange, nachdem die Platte fertig ist - verleihen Sie das Buch unbedingt an die Jugend von heute. Ein endlich nach dringlicher Aufforderung („Jetzt sag doch mal einer was!“) geäußerter Kommentar befindet, daß es zum kommentierten noch viel zu früh sei - verleihen Sie das Buch unbedingt an die Jugend von vorgestern. Mimi denkt sich im Stillen: „Ich will meinen Bärenklau zurück.“ Die geschmacklichen Irritationen werden durch gemeinsames Hören und Eindringen in die Geschichte zusammen mit Niklas wettgemacht, inklusive Intensivierung und Vertiefung in die Vorgängeralben und der Beziehung. Für das Broadway-Konzert kommen keine Vorabinformationen, weil die Großbritanien-Tour wegen einer Handverletzung Hacketts abgesagt werden muß, Alan regrediert zum Engländer, dafür gibt es von der angeschriebenen Plattenfirma für den tapferen deutschen Fan-Club fünf Freikarten - five of fifth. Der Auftritt wird ambivalent empfunden, ein tröstliches Antidot für durch zu späte Geburt verhinderte Nostalgiker, am Ende läßt Mimi ihre mitgeschleppte Reliquie auf der Damentoilette zurück. Die Tür zur Zukunft steht offen, man spekuliert über die Trennungsgerüchte, nun wieder ordnungsgemäß verkündet vom MELODY MAKER. ALs aus der Runde prognostiziert wird, der neue Sänger könne ein Schlagzeuger in Latzhose sein, widerspricht Mimis Bruder: „Geile Drummer können niemals erfolgreiche Leadsänger sein.“ Niklas zeigt mit seiner Replik prophetische Begabung: „Alles klar, Joe.“ - Say it’s alright Joe. Aber das ist eine andere Geschichte. Und die Musiker kann man ja irgendwie verstehen, denn wonach sehnt man sich nach Weltuntergangsvisionen, bedeutungsschwangeren mythologischen Szenarien, apokalyptischen Endzeitkämpfen und labyrinthischen Reisen ins Unterbewußtsein? Exile on Main-Stream.

 

Rezension: Frank Rüb

August 2023