Der Konzertführer

Rowohlt Verlag

Attila Csampai / Dietmar Holland

 

Der Konzertführer

 

Rowohlt Verlag €38.-

„Nach einer grüblerisch-chromatischen Einleitung bestätigt das strahlende erste Thema demonstrativ die Haupttonart. Die Triolen-Begleitung wird in der Überleitung fast schon durchführungsartig verarbeitet und führt zum überraschend in der mediantischen Tonart einsetzenden Seitenthema...“ So oder ähnlich nüchtern tönt es in konventionellen Konzertführern, zum strukturellen Verständnis eines Werkes selbstverständlich hilfreich. Im hier besprochenen Band geht es frischer, geistreicher und unsystematischer zu. So setzt in einem besonders melodieseligen Mozart'schen Klavier-Konzert (Nr.15, KV 450) das Soloinstrument einen Takt zu früh ein in der Befürchtung, dem Orchester könne noch etwas einfallen. Die gesamte Wiener Klassik ist ein Sahnehäubchen. Ein ironisch-aufklärerischer Haydn, ein organisch-dialogischer Mozart werden mit großer Kennerschaft und Sympathie behandelt, hellwach bei jedem Moll-Takt. Bei Beethoven gibt es eine denkwürdige Analyse zur Vierten und eine Lehrstunde zum Verhältnis Form und Inhalt beim Finale der Achten Symphonie neben Warnhinweisen vor allzu affirmativ-triumphalen Schlußgesten. Dementsprechend haben es Komponisten mit Vornamen Richard nicht leicht. Dafür werden im Gegensatz zum einzig noch lieferbaren Konkurrenzprodukt nicht nur lumpige drei Sibelius- und Schostakowitsch-Symphonien besprochen, sondern alle. Mut zur Lücke herrscht (nomen est omen) bei Schuberts Unvollendeter, wo drei Textseiten zwar nicht über die Anfangstakte hinauskommen, aber einen fulminanten Essay über subversive Bürgerlichkeit im Metternich'schen Überwachungsstaat bieten. Nach Tschaikowsky-Ehrenrettung und Mahler-Apotheose kulminieren die Formulierungskünste der Autoren bei Alban Berg. Da auch die Komplexität der Partituren kulminiert, hat es die Orientierungshilfe beim Lesen gegenüber dem Fassungsvermögen beim Hören nicht leicht. Nachvollziehbarer und persönlich getestet der Hinweis auf den Einbruch des atonalen im zweiten Satz von Brahms' Zweiter Symphonie (Beiname „Pastorale“!). Herkömmlich dagegen die Kritik an der Etikettierung der Vorgängerin als Beethovens Zehnte. Warum eigentlich? Ein drittes Thema in der Durchführung des ersten Satzes, Tonart c-moll und Variation der Götterfunken-Melodie im vierten Satz bieten Anhaltspunkte genug. Seien wir zufrieden, solange niemand die Neunte als Brahms' Nullte bezeichnet.

Rezension von Frank Rüb, Mainz

Oktober 2017